Klaus duzt alle Teilnehmer: Diesen fällt es anfangs offensichtlich schwer, es ihm gleich zu tun. Nach kurzer Zeit sind aber alle beim Du, Klaus ist es gelungen, das Eis zu brechen. Klaus ist Mitte 50 und lebt seit sieben Jahren in Nürnberg auf der Straße. Und er ist einer der Stadtführer bei Schicht-Wechsel, den besonderen Stadtführungen des Sozialmagazins Straßenkreuzer.
Über Walter Grzesiek, den früheren Radaktionsleiter der HZ und Vorsitzenden des Vereins Straßenkreuzer, hatten die CSU Vorsitzenden Götz Reichel und Peter Uschalt im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Heimat entdecken“ die Führung organisiert. Rund 20 Teilnehmer trafen sich am Nürnberger Hauptbahnhof, wo sie von Klaus und seinem Hund Lord erwartet wurden. Beim Schicht-Wechsel zeigen Obdachlose die sozialen Einrichtungen, die ihnen das Leben auf der Straße erleichtern, weisen auf Brennpunkte und Missstände hin, und vor allem: sie erzählen aus ihrem Leben. Es gibt vier verschiedene Routen mit unterschiedlichen Anlaufstellen.
Als erstes zeigte Klaus der Gruppe die Wärmestube hinter dem Bahnhof. Hier findet er tagsüber einen Platz zum Aufwärmen und etwas zu Essen. Dabei kann er nicht jeden Tag hierher zum Essen kommen, er soll sich ganz bewusst auch woanders versorgen. Klaus ist hier nicht nur Konsument, er hilft auch bei Zubereitung und Ausgabe der Speisen. Die Wärmestube ist die einzige Einrichtung ihrer Art in ganz Nürnberg, die Auslastung entsprechend hoch. Der einsetzende starke Regen ließ die Gruppe in das Bahnhofsgebäude zurückkehren. Klaus erläuterte hier Geschichte und Aufgaben der Bahnhofsmission, zeigte häufig genutzte Schlafplätze und die Orte, wo sich einzelne Nationalitäten bevorzugt aufhalten. Wenig Verständnis zeigte er für den fast offenen Verkauf von Drogen. Insbesondere das Vorgehen beim „Anfüttern“ von Kindern und Jugendlichen verurteilt er scharf.
Der Regen ließ Klaus mehr Zeit zum Erzählen seiner eigenen Geschichte als üblich. Sehr offen sprach er über sein Alkoholproblem als Auslöser für seine aktuelle Situation. Er betonte jedoch immer wieder, dass er selber die alleinige Schuld daran trägt und zurzeit auch keinen Anlass sieht, wieder sesshaft zu werden. Ein Leben in der Enge einer Wohnung kommt für ihn erst in ein paar Jahren in Frage, wenn das Alter ein Leben auf der Straße erschwert. Auf die Frage, wie viele Obdachlose es in Nürnberg gebe, nannte er für den Großraum Nürnberg/Fürth/Erlangen die Zahl 1.800. Davon würden aber nur rund 20 wirklich auf der Straße leben und die Nächte grundsätzlich im Freien verbringen. Gezwungen würde dazu niemand, es gibt ausreichend offizielle Schlafplätze. Peter Uschalt fragte hier gezielt nach: „Eigentlich muss in Deutschland niemand unter der Brücke schlafen, unsere engmaschigen sozialen Sicherungssysteme lassen niemand durchs Netz fallen. Warum wählt man diesen Weg?“ Klaus bestätigte dies und erklärte anschaulich, dass er sich bewusst für seine derzeitigen Lebensumstände entschieden hat. Manche kommen mit den beengten Verhältnissen dort nicht zurecht, andere ziehen die Nacht an der frischen Luft ganz einfach vor.
Klaus ist nicht nur Stadtführer bei Schicht-Wechsel, er verkauft auch das Sozialmagazin Straßenkreuzer. Die Verkäufer erwerben die Magazine und verkaufen sie auf eigene Rechnung weiter. Diese Tätigkeiten sind unschätzbar für das Selbstwertgefühl von Klaus und den anderen Verkäufern. Sie fühlen sich gebraucht, verdienen eigenes Geld und bauen sich mit ihrer Stammkundschaft auch neue soziale Kontakte auf. Neben dem Magazin und den Schicht-Wechsel-Führungen gibt es auch die so genannte „Straßenkreuzer Uni“. Zu unterschiedlichsten Themen gibt es hier Vorträge, Exkursionen, Arbeitsgruppen. Alles kostenlos und für jeden offen. Ein weiterer Baustein für die Zielgruppe der Obdachlosen am „normalen“ Leben teilhaben zu können.
Beim gemeinsamen Essen nach der Führung hatten die Teilnehmer noch viele Fragen an Klaus, die dieser offen beantwortete. So hat er beispielsweise seinen Hund von einem eng befreundeten Obdachlosen übernommen, als dieser verstarb. Und die Abende und Nächte verbringt er nicht nur auf der Straße. Er hat auch einige Stammlokale, in denen man ihn kennt und er bei klammer Kasse auch immer wieder jemanden findet, der sein Bier bezahlt. „Auf uns hat Klaus nicht den Eindruck einer gescheiterten Persönlichkeit gemacht, sondern eines mit beiden Beinen in seinem selbst gewählten Leben stehenden Mannes“, so das Resümee von Götz Reichel. An diesem Abend haben die Teilnehmer ein für alle ziemlich neues Stück Heimat entdeckt.